KIEL. Auch zweieinhalb Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und dem "Zeitenwende"-Versprechen von Bundeskanzler Scholz sind die meisten der rund 30 wehrtechnischen Betriebe in Schleswig-Holstein unzufrieden mit der Beschaffung von Rüstungsgütern durch die Bundeswehr. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die Geschwindigkeit bei Bestellungen oder Genehmigungen. Zwar seien in den letzten Monaten aus dem 100-Milliarden-Paket des Bundes durchaus Aufträge im Norden gelandet. Aber insbesondere die zähen Abläufe im Koblenzer "Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr" (BAAINBw) würden die Zeitenwende "eher zu einer Zeitlupenwende machen
", sagte Wirtschaftsminister Madsen heute
(4. Februar) nach dem 5. Wehrtechnik-Gipfel der Landesregierung. Viele Vertreter der Wehrtechnik-Branche mahnten dabei bei Bund und Ländern ein Gesamtkonzept an, um Deutschland möglichst rasch wieder verteidigungsfähig zu machen.
Gast des zweistündigen Branchentreffens war der Präsident des "Kiel Institut für Weltwirtschaft" (IfW), Professor Moritz Schularick. In der Studie "Kriegstüchtig in Jahrzehnten – Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Russland" waren der Ökonom und sein Team bereits im vergangenen Jahr zu einem erschreckenden Befund gekommen: So seien die monatlichen russischen Rüstungs-Produktionsraten mittlerweile so hoch, dass sie den gesamten deutschen Bestand an militärischem Gerät in rund einem halben Jahr auffüllen könnten. "Allein der Vergleich mit den deutschen Rüstungskapazitäten von vor 20 Jahren zeigt, dass es Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern wird, um bei den aktuellen Beschaffungsgeschwindigkeiten ähnliche Kapazitäten wie noch im Jahr 2004 aufzubauen
", sagte Schularick.
Um eine glaubwürdige europäische Aufrüstung und damit Abschreckung zu erreichen, sind aus Sicht der Forscher vor allem folgende Dinge prioritär: Neben mehr Tempo im Beschaffungswesen und einer Reform der Auftragsvergabe müsse bereits in diesem Jahr das Verteidigungs-Budget um 28 auf 80 Milliarden Euro angehoben werden. Zudem sollten laut Schularick die aktuell hohen Stückpreise der Rüstungsgüter durch höhere Bestellmengen reduziert, die Investitionsförderung angehoben sowie Technologien und Innovationen vorangetrieben werden.
In dem Zusammenhang hat Madsen an Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius geschrieben, um die Chancen für die Schaffung eines maritimen Bundeswehr-Innovationszentrums in Schleswig-Holstein auszuloten. "Aktuell entsteht bei München ein Innovationszentrum der Bundeswehr-Uni für Luft- und Weltraumprojekte
", so der Minister. Dabei gehe es darum, zivile Technologien für das Militär nutzbar zu machen und umgekehrt. Genau dieses Ziel verfolgen wir hier in Schleswig-Holstein auch im maritimen Sektor. Madsen: "Und ich bin überzeugt, dass wir im Schulterschluss mit dem Verteidigungsministerium und der Bundeswehr die Innovationsfähigkeit der Marine sowie der maritimen Wirtschaft und deren Zulieferer wesentlich stärken können. Vor allem die Kieler Förde mit ihren Unternehmen und Einrichtungen bietet dafür ein ideales Umfeld.
"
Nach den Worten von Anschütz-Geschäftsführer Andreas Weidner würden sämtliche Innovationsbemühungen im maritimen Umfeld in Schleswig-Holstein bisher in zivile und militärische Anwendungen getrennt. Aus diesem Grunde habe sich vor einigen Monaten die Kieler Initiative "MAIN" (Maritime Accelerator und Innovation Network) gegründet, um als Bindeglied Innovationen zu beschleunigen, Synergien zu identifizieren und Anwendungen mit zivil-militärischem Doppelnutzen zu fördern. "Anschütz ist ein hervorragendes Beispiel für ein funktionierendes Innovations-Ökosystem. Mit vergleichbaren Umsätzen aus zivilen Märkten und aus Marineanwendungen zeigen wir, wie eine Innovationsabteilung von Anfang an mögliche Doppel-Anwendungen mitdenken kann
", so Weidner.
Das etablierte Kieler CAPTN-Projekt zur Entwicklung einer autonomen Navigation sei laut Weidner und Madsen ebenso ein mögliches Anwendungsfeld wie die bislang militärisch ungenutzten Daten von privaten Offshore-Betreibern. "Auf Bohrinseln werden massenhaft Meeres-Daten oder Informationen über Schiffsbewegungen gesammelt. Damit könnte man der Marine leicht dazu verhelfen, sich ein besseres Lagebild zu verschaffen – insbesondere in Bereichen, in denen sie selbst nicht mit Schiffen oder U-Booten unterwegs ist
", sagte Madsen. Dies könne nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Sabotage-Zwischenfälle in der Ostsee höchst relevant werden.